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Kulturwissenschaften - Ort und Raum

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„Einblicke in die Kulturwissenschaften“ geht in diesem Teil der Frage nach, was der Unterschied zwischen den zwei Begriffen von Ort und Raum ist.

In der Kulturwissenschaft gilt grundsätzlich, dass der Raum eine bestimmte Funktion erfüllt, während ein Ort Identität stiftet.

Marc Augé, ein französischer Anthropologe, beschreibt den Ort als einen lebensweltlichen Bereich, in welchem menschliches Handeln konkret wird und sich der Mensch entwickelt. Mit Orten, sagt Augé, verbindet der Mensch eine Geschichte und verknüpft mit ihnen eine Beziehung. Der Mensch gründet ein Gefühl von „Zuhause“ und gibt dem Ort eine Identität. Der Gedanke an den eigenen Wohnort wird oft mit einem Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit assoziiert. Durch die Geschichte des Hauses und der Nachbarn entsteht ein Sinngebilde. Das slowenische Wort „Kraj“ beschreibt sowohl den Ort, als auch die Grenze und tatsächlich ist der Wohnort auch eine persönliche Grenze von der Außenwelt. Augé sieht den Ort als geschichtliche und spezifische Einschreibung, sowie Ausscheidung aus dem Raum.

Ein Raum hat stets eine bestimmte Funktion. Er ist identitätslos und unterliegt einem System. Augé gibt Räumen das Synonym „Nicht-Orte“. Hiermit sind zum Beispiel: Stadtautobahnen, Einkaufszentren oder Flughäfen gemeint. Bei Räumen handelt es sich somit um etwas Zweckbedingtes, wie: Verkehr, Transit oder Handel. „Nicht-Orte“ schaffen keine Identität, sondern vermitteln das Gefühl von Einsamkeit und auch Ähnlichkeit, in einer Menge von fremden Menschen. Ein Raum ist auf den menschlichen Körper bezogen, weil sich die Menschen im Raum orientieren, so Augé weiter. Was Augé damit meint, erklärt die deutsche Kulturwissenschafterin Aleida Assmann mit: „Menschen orientieren sich immer schon im Raum, sie entwickeln nicht nur ihr Sensorium, sondern auch ihre Imagination, ihr Gedächtnis, ihre Sozialisierung innerhalb grundlegender räumlicher Strukturen.“ An dieser Stelle sei noch festgehalten, dass gewisse Räume, wie zum Beispiel: ein Flughafen, auch für gewisse Menschen zu Orten werden können. Auch wenn der Raum von den Kulturwissenschaftern grundsätzlich als „unpersönlich“ angesehen wird, so werden sich manche Menschen dennoch damit identifizieren und sich auch dort sicher fühlen können. Als bestes Beispiel seien hier die Piloten, Stewardessen und Flughafenmitarbeiter erwähnt, welche eine gewisse Erfahrung mit diesen Räumen (für sie Orte) verbinden.

Veränderung im Laufe der Geschichte

In der Antike wurden den Begriffen Ort und Raum keine größere Bedeutung zugeschrieben, sagt der Historiker Peter Dinzelbacher. Jedoch wurde ein gelebter Raum gefunden. Das gefährliche Meer (der Raum) und darin eine Insel, ein Zufluchtsort für die Menschen von dem riesigen und gefährlichen Raum. Im Blickpunkt auf das slowenische Wort „Kraj“, kann somit das Meer auch als eine Grenze angesehen werden. Und tatsächlich bildete das Mittelmeer für den griechischen Geschichtsschreiber Herodot die Grenze zwischen Europa und Asien. Damals herrschte das Weltbild vor, dass die Erde in Europa und Asien (mitsamt Afrika) geteilt sei. Eine andere Erfahrung mit dem Raum konnten die Menschen der Antike im „heiligen Raum“ finden. Gemeint ist hier der Tempel, der genaugenommen einen „göttlichen Ort“ bildete, da hier den Menschen Schutz geboten wurde, sie mit ihren Göttern in Begegnung treten konnten und ihnen die Zeitlichkeit und Vergänglichkeit ihres Lebens vermittelt wurde.

Im Mittelalter wurde der Raum gesellschaftlich gegliedert, sowie der Ort durch Herrschaftsverhältnisse bestimmt. Bestimmte Teile waren nur für gewisse Schichten zugänglich, erklärt Dinzelbacher. Der österreichische Kulturwissenschafter Reinhard Kacianka sieht auch in der Neuzeit noch viele Orte mit Zugangsbeschränkungen versehen. So schließen Universitäten Menschen ohne Nachweis einer allgemeinen Universitätsreife genauso aus, wie gewisse Bereiche einer Veranstaltung nur für Personen mit besonderen Privilegien zugänglich sind. Der Raum wurde im Mittelalter mit dem Fremden und Unheimlichen in Verbindung gebracht. Die meisten Flächen in Europa waren noch unbewohnt und bestanden aus Urwäldern. Nach und nach wurden diese Naturräume von den Menschen entdeckt und zu Orten umgewandelt. Die Furcht vor dem Bösen, also vor bösen Geistern, wie Dämonen, bestimmte das Leben der Menschen im Mittelalter. Die Errichtung von Bildstöcken (umgangssprachlich: Marterl) an Wegesrändern, begründet Dinzelbacher mit der Absicht des Menschen, schützende Orte vor dem Bösen zu schaffen und den Reisenden ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, da an diesen „schützenden Orten“ der Mensch schon anwesend war und in Form von Kruzifixen ein Zeichen gegen das Böse gesetzt hatte.

1492, mit der Entdeckung Amerikas, war nicht nur der „neue“ Kontinent gefunden, sondern mit ihm offenbarte sich auch ein riesiger, zur Verfügung stehender Raum, den der abendländische Mensch zu Orten umwandeln konnte. Was sich als Segen für die Pioniere der abendländischen Kultur herausstellte, war für den italienischen Philosophen Massimo Cacciari eine Entwurzlung von den Traditionen und losgelöst von jedem Bezug zum Vergangenen. Und auch Rainer Maria Rilke meinte süffisant: „Nun drängen, von Amerika her, leere gleichgültige Dinge herüber, Schein-Dinge, Lebens-Attrappen … Ein Haus, im amerikanischen Verstande, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemeinsam mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war … Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben.“

Nach Kacianka lässt sich in der heutigen Zeit davon sprechen, dass der Mensch in einer „Echtzeit“ lebt. Was Kacianka damit sagen möchte, ist, dass es uns Menschen nun möglich ist, zu jederzeit, mit jedem anderen Menschen auf der ganzen Welt in Kontakt treten zu können. Denn mit Hilfe unserer Technologien können wir virtuell überall präsent sein. Der Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der deutschen Universität Bremen, Andreas Hepp, spricht hier von einer „Translokalen Konnektivität“, die zwar eine über die staatlichen Grenzen der Nationen hinausgehende Vernetzung von Menschen ermöglicht, jedoch auch zu einem Verlust von symbolischen Ausdrucksmitteln führt. Das Gefühl, bei jemand anderem „wirklich“ zu sein, wird immer schwächer, mahnt Kacianka. Geschwindigkeit ist ein bestimmendes Element in der „Echtzeit“. Erfahrungsberichte haben gezeigt, dass gerade die Generation von Digital Natives (die in der digitalen Welt aufgewachsen sind, Anm.) möchten, dass stets alles rasch vonstattengeht und sie sich selbst dabei beobachten können, wie die Ungeduld ansteigt, wenn etwas länger (an)dauert.

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